Der blinde Fleck der Dezentralisierung

Man hört sie allerorten, die Verheißungsgesänge auf die dezentrale Selbstorganisation. Unabhängig und souverän sollen die Menschen zusammenarbeiten: Autos miteinander teilen, selber Strom erzeugen, Bürgerbeteiligung leben. Außerdem sollen sie ihre Daten nicht den Zentralgehirnen von Google, Amazon und Facebook auf dem Silbertablett anreichen, sondern sparsam mit ihnen umgehen.

Auch in Sachen Finanzen soll Dezentralität für mehr Kontrolle und Sicherheit sorgen. Wer in Bitcoin investiert, sucht nicht zwangsläufig nur nach schnellen Spekulationsrenditen, sondern auch nach einer Wertanlage, die von den Zentralbanken unabhängig ist. Das konnte man in den Hochinflationsländern Simbabwe und Venezuela beobachten, aber auch am Bosporus, wo die Lira nach außenpolitischen Spannungen mit den USA rasant an Wert verlor. Die Zahl der Bitcoinbesitzer in der Türkei vervielfachte sich damals rasch.

Die Politik setzt ebenfalls stärker auf dezentrale Entscheidungsfindung. Die Piratenpartei hat versucht, tagespolitische Entscheidungen durch die Parteimitglieder treffen zu lassen, online per „liquid democracy“. Die SPD kann auf eine zwar weniger digitale, aber umso längere Tradition der Mitbestimmung zurückblicken, für die sie heute immer häufiger auf Onlinebefragungen setzt. Heute zeigt sich selbst die CDU gegenüber dezentralen, basisdemokratischen Ideen offen. So wie zum Beispiel mit ihren Regionalkonferenzen und der Kampfabstimmung um die Nachfolge von Angela Merkel als Parteivorsitzende, in der erstere gipfelten.

Das trägt nicht nur der technischen Entwicklung Rechnung, sondern vor allem dem „Geschmäckle“, das Zentralentscheidungen oft haben. Denn wenn einige Wenige den Kurs für die Vielen festlegen, stellt sich die Frage: cui bono? Sind es wirklich die Bürger die von der Geldpolitik der EZB oder von der Dieselpolitik der Bundesregierung profitieren?

Die zentral gesteuerte Planwirtschaft war kein Erfolgsmodell. Und auch die zentralen Erfassung aller personenbezogenen Daten wird kritisch beäugt. Nicht nur weil Passwörter, Privatfotos und Gesundheitsdaten schon milliardenfach entwendet und veröffentlicht wurden, sondern auch weil man die chinesischen Sozialkreditsysteme vor Augen hat. Diese erstellen und bewerten individuelle Verhaltensprofile, und gewähren Fernreisen oder bessere Kreditbedingungen nur linientreuen Bürgern.

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass dezentrale Lösungen zunehmend populär werden. Selbst für Bereiche, die bislang zentral organisiert werden mussten, wie beispielsweise Stromnetze, gibt es mittlerweile dezentrale Modelle. Solaranlagen auf dem Wohnhaus, kommunale Biogasanlagen, Smart-Grid und Batterietechnologie ermöglichen das.

dezentrales netzwerk

Aber sind dezentrale Strukturen ein Allheilmittel? Jein. Einerseits verspricht die dezentrale Mitbestimmung mehr Gleichberechtigung und die Dezentralisierung von Eigentum weniger Einkommens- und Vermögensungerechtigkeit. Andererseits zeichnen die Jünger der Dezentralität ein Idealbild egalitärer Einflussnahme und Beteiligung — und diesem Mantra folgen viele, ohne es kritisch zu hinterfragen.

Das ist allerdings der blinde Fleck der aktuellen Euphorie. Dezentralität bedeutet nicht gleiche Macht für alle. Auch in dezentral aufgestellten Systemen gibt es immer zentrale(re) Akteure. Es gibt immer jemanden, der/die Sachen in Bewegung bringt, Regeln setzt, und – und das wird häufig übersehen – darüber entscheidet, wie über Regeln entschieden wird.

Kritische Entscheidungen werden in vielen Initiativen von einem Kernteam maßgeblich beeinflusst oder, unter echtem oder anscheinendem Zeitdruck, sogar im Alleingang getroffen und umgesetzt — obwohl die gleichberechtigte Mitbestimmung zu den obersten Leitlinien gehört. Und ist es nicht auch fair, dass jene, die die meiste Zeit investieren, auch mehr zu sagen haben? In der Fridays for Future Bewegung war man sich darüber offensichtlich uneins. Ein Teil der Gruppe hat das Führungsteam presseöffentlich für ihren exklusiven Führungsstil angeprangert.

Trotz solcher Spannungen ist dieser Artikel nicht als Vorwurf zu verstehen. Manchmal sind Entscheidungen so zeitkritisch, kleinteilig, oder komplex, dass inklusive Abstimmungsverfahren nicht praktikabel sind. In anderen Fällen ist die gleichberechtigte Mitbestimmung aber auch einfach nur ein schönes Label, eine progressive Fassade ohne tatsächliche Dezentralität.

In der Wirtschaftswelt experimentieren derzeit viele Unternehmen mit dem Holokratieansatz. Im Idealfall wird dadurch die gesamte Entscheidungsmacht auf die Mitarbeiter übertragen — und nimmt den InhaberInnen die Entscheidungsmacht. De facto sind die Mitarbeiter/innen aber meistens weiterhin beim Unternehmen und ebenjenen InhaberInnen angestellt. Und sollte es diesen zu bunt werden, können sie das hierarchische Führungsprinzip jederzeit wiedereinsetzen. Mitbestimmung hin oder her. Ich kenne nur einen Fall, in dem der Inhaber einer Firma sich und seine MitarbeiterInnen tatsächlich gleichberechtigt beteiligt hat, mit identischem Stimmrecht und dem damit für ihn verbundenen Kontrollverlusts.

Das Problem wäre selbst dann nicht gelöst, wenn man die Organisation „auf die Blockchain“ auslagern würde. Das würde mittelbar zwar eine dezentrale Konsensfindung ermöglichen. Gleichsam müsste aber vorher z.B. entschieden werden, welche Blockchaintechnologie genutzt werden soll. Damit wäre dann allerdings auch schon entschieden, nach welchem Prinzip in Zukunft Konsens organisiert wird, also wie abgestimmt wird: nach dem Proof of Stake oder dem Proof of Work Konzept, öffentlich oder privat?

In all den verschiedenen, beschriebenen Szenarien bleibt ungeklärt: Wie wird entschieden, wie entschieden wird? Eine unendliche Regression von Entscheidungen, die nie vollständig aufgelöst werden kann. Irgendwo am Anfang gibt es immer jemanden, der/die agiert, also entscheidet, und den Ball in eine bestimmte Richtung ins Rollen bringt. Das ist irreversibel und beeinflusst jede spätere Kursänderung, denn der Ausgangspunkt ist nicht mehr zu ändern.

Es wird also immer zentralere und weniger zentrale, oder mächtigere und weniger mächtigere Akteure geben, ohne, dass dies vollständig demokratisch aufgefangen oder legitimiert werden könnte. Für diese systeminhärente Ungleichheit soll dieser Text sensibilisieren. Er ist mitnichten eine Absage an dezentrale Organisation. Im Gegenteil: die Vorteile des Dezentralen überwiegen, wahrscheinlich in der Mehrheit aller Anwendungsbereiche. Nicht umsonst ist die Dezentralisierung ein wichtiges Prinzip der Demokratie, wie z.B. im deutschen Subsidiaritätsprinzip.

Aber irgendwo konzentriert sich Entscheidungsmacht immer. Auch wenn dies auf den ersten Blick nicht in jedem Fall sichtbar ist. Das bedeutet, wer sich der zentralen Steuerung des Dezentralen nicht bewusst macht, der/die entmachtet sich selbst, in jedem Fall.

Kurzum: Dies ist keine Kritik an dezentralen Strukturen, sondern ein Aufruf diese kritisch unter die Lupe zu nehmen und aktiv mitzugestalten. Nicht nur indem man mit-abstimmt und mit-ausführt, sondern auch, indem man die zugrundeliegenden Prozesse, Regeln, Leitsätze und Organisationsformen infrage stellt.

Wenn fünf Optionen statt zwei zur Wahl stellt, kann das andere Lager spalten und dadurch gewinnen. Wer das Zwischenergebnis sieht und sich erst dann entscheiden muss, dessen Stimme hat tendenziell mehr Gewicht. Wer Alternativen formuliert, weitet die Grenzen des Handlungsspielraums. Faire Beteiligung ist ein kontinuierlicher Aushandlungsprozess.

Streitet darüber, wo kommuniziert wird: in WhatsApp, Signal, Slack, per E-Mail, am Telefon oder offline. Streitet darüber, wie abgestimmt wird: Wer formuliert die Entscheidungsoptionen? Wie viele Optionen werden zur Wahl gestellt? Wie viele Stimmen hat jede/r? Wird namentlich oder anonym abgestimmt? Gleichzeitig oder zeitversetzt? Streitet darüber, was es für Mehrheiten braucht, um was zu beschließen. All das macht einen Unterschied. Das gilt für dezentral organisierte Technik, Gruppen und Bewegungen, ebenso wie für unsere Demokratie als Ganzes.