Wenn wir den Kurs nicht ändern, steuern wir in den Sturm
Ist da nicht eine Strömung, die noch keine Wellen schlägt?
Die arabischen Jungendbewegungen, die ihre Gesellschaften grundlegend verändern und dabei obendrein das geopolitische Gefüge entscheidend umgestalten, haben alle überrascht. Niemand hat auf ein solches Szenario hingedeutet. Und hätte ein Experte dieses in seinem überwältigenden Ausmaß vorhergesagt, wäre er wahrscheinlich bestenfalls ignoriert worden. In Deutschland sieht derzeit keiner die Gefahr eines erschütternden Aufbegehrens. Das könnte angesichts der aktuellen Ereignisse ein großer Fehler sein.
An vielen Orten dieser Welt macht sich die Jugend daran, das Establishment zu erschüttern. Die Gemengelage politischer und wirtschaftlicher Missstände, die die Menschen antreibt, unterscheidet sich dabei von Land zu Land. Gemein ist der aufrührerischen Jugend jedoch allerorts, dass ihr eine maßgebliche Gestaltung der Gesellschaft vorenthalten blieb.
Die in die Jahre gekommenen poltischen und wirtschaftlichen Eliten haben sich auf dem Weg in ihre Positionen Privilegien, Einfluss und Vermögen gesichert. Eine scheinbar ganz natürliche Entwicklung, wie sie seit Menschengedenken zu beobachten ist. Ebenso wie die Leidtragenden ihrer Missbilligung im Gegenzug regelmäßig Ausdruck verleihen – mal mehr, mal weniger nachdrücklich, mal mehr, mal weniger erfolgreich. Auf sukzessiv zunehmende Ungerechtigkeit folgt irgendwann der plötzliche Widerstand. Immer.
Der Zeitpunkt des Aufbegehrens ist kaum vorhersehbar. Sowohl die Dynamik des Aufbegehrens als auch dessen Folgen sind von einer unüberschaubaren Anzahl an Umständen abhängig. Infolgedessen hinken internationale Vergleiche immer und führen bisweilen sogar in die Irre. Fest steht aber: Der seit Monaten andauernde Frühling ist das weltgeschichtlich wichtigste Phänomen der letzten 20 Jahre. Die Prozesse sind zwar noch im Gange – und die Folgen sind in ihrer Gänze aus dieser zeitlichen Nähe noch nicht zu erfassen, aber schon jetzt ist die Bezeichnung Zeitenwende eindeutig angemessen. Seit den osteuropäischen Freiheitsbewegungen, die zum Fall des Eisernen Vorhangs führten haben wir keine so bedeutende Dynamik gesehen.
Eine solche Welle politischer Erneuerungen solcher Tragweite prägt ganze Generationen – mittlerweile weltweit. Stets fußt sie auf unerhörten identitätsstiftenden Ideen. Der Westen wurde von einer solchen Welle der Emanzipation zuletzt in den ausgehenden sechziger Jahren mitgerissen. Und die Umstürzler von damals haben sich mittlerweile zahlreich in der Spitze der Gesellschaft eingerichtet – in Parteien, Unternehmen, Institutionen. Das über Jahrzehnte gewachsene Netzwerk der Elite konserviert ihren gewachsenen Einfluss und ihr Vermögen – und damit ein rigides System. Scheinbar ganz natürlich, wie unzählige vor ihnen; obschon dieser Tage auch abwägend, mit Fingerspitzengefühl – gerade nur so sehr, als dass es keinen störenden Gegenwind erzeugt.
In Deutschland mag ihr dabei zupass kommen, dass die Jungen von heute sich an diese Rigidität des Systems gewöhnt haben. Die letzte Zeitenwende (1989/90) ist für die Twens des Hier und Jetzt häufig nur eine Kindheitserinnerung – fast ausschließlich unpolitischer Natur. Davon abgesehen erlebten sie einen politischen Einheitsbrei, insbesondere hinsichtlich der wirtschaftlichen Grundüberzeugungen: 16 Jahre Kohl samt schrittweiser Deregulierung der Finanzmärkte, anschließend der zwar rote aber ebenso wirtschaftsliberale Agenda2010-Schröder und nun die Ziehtocher des Ersten auf gleicher Linie. Außerdem Volksparteien die sich vor allem darin unterscheiden wollen, dass sie näher an der Mitte sind.
Wer politisch so sozialisiert wurde braucht besonders viel Verve und Idealismus um an das eigene gesellschaftliche Gestaltungspotenzial zu glauben. Das schaffen heutzutage nicht viele – und diese wenigen trotzen dem Establishment zwar Zugeständnisse ab, aber dessen Fundament erschüttern sie nicht. Folgerichtig stellt Jens Jessen in der aktuellen ZEIT-Ausgabe fest, dass „wenn ein so gewaltiger Lebensbereich wie die Wirtschaft (…) der gesellschaftlichen Gestaltungkraft entzogen wird, dann ist auch Demokratie sinnlos“ und sieht letztere direkt in Gefahr.
Wir erleben die reale Stagnation der niedrigen Einkommen seit Jahrzehnten, und obendrein sehen wir die Vermögensverhätlnisse derer oben und derer unten immer weiter auseinanderklaffen. Gemessen an der öffentlichen Empörung scheinen sich die Ungerechtigkeiten allerdings in Grenzen zu halten. Der Kraftakt, der mit einer umfangreichen Erneuerung verbunden wäre, scheint angesichts der mehrheitlich (noch) ertragbaren Lebensumstände derzeit nicht gerechtfertigt. Jugendexperte Klaus Hurrelmann räumt in der aktuellen ZEIT-Ausgabe allerdings auch ein, dass bei einer erneuten Krise des Arbeitsmarktes „die Jugend unter Garantie aufbegehren“ wird.
Die meisten glauben, und alle hoffen, dass wir die schlimmsten Auswirkungen der Finanzkrise abgewendet haben und dass dieser kürzlich einsetzende wirtschaftliche Frühling anhalten mag. Zumindest in Deutschland. Das übrige Europa wartet sogar noch auf eben diese Trendwende. Die Wachstumsprognosen werden allerdings schon wieder nach unten korrigiert. Es zeichnet sich ab, dass der aktuelle zarte Wirtschaftsaufschwung nur ein Strohfeuer war – geschürt mit einer beispiellosen Menge (zukünftiger) Steuergelder. Womöglich folgt eine Rezession auf den Fuß. Dann werden die Unzulänglichkeiten des Finanzsystems für jeden von uns unweigerlich und deutlich spürbar. Wie bereits erfahrbar in einigen europäischen Nachbarländern – deren Situation dadurch auch noch verschärft würde.
Es wird deutlich, dass die Regierungen des Westens nicht angemessen auf die Finanzkrise reagiert haben. Die Dynamik der jungen Leute in so vielen Ländern der Welt führt uns zeitgleich beeindruckend vor, dass keine Gesellschaftsordnung final ist, dass alles diskutiert und gestaltet werden kann – und zwar von allen. Wo Altes versagt, muss Neues gewagt werden. Die aktuelle Situation erfordert eine grundlegende Reform des Finanzsystems. Notwendig dafür ist auch eine visionäre Gestaltung der europäischen Gesellschaft. Nicht die Gegenwart muss verwaltet, sondern die Zukunft gestaltet werden.
Bleibt abzuwarten ob die Regierenden es zeitnah schaffen das Notwendige zu unternehmen. Oder ob sie an festgefahrenen Handlungsmustern festhalten und fahrlässig riskieren, dass die Strömungen der Enttäuschung Wellen der Erneuerung schlagen.