Warum Griechenland gerettet wird

Stellen Sie sich vor Sie haben eine Schwester, die kürzlich ihren Job und heute auch ihre Wohnung verloren hat. Sie müsste heute Nacht auf der Straße schlafen. Es sei denn, Sie gewähren ihr Unterschlupf.

Wahrscheinlich würden Sie ihr das Sofa bereiten und ihr helfen, eine neue Wohnung und einen neuen Job zu finden. Weil Sie sich ihr solidarisch verpflichtet fühlen, und es auch Ihnen besser geht, wenn sie ein Dach über dem Kopf hat. Auch weil andere Leute schlecht über Sie denken und reden könnten, wenn ihre Schwester obdachlos ist.

Dann heißt es „Das ist doch der, dessen Schwester jetzt auf der Straße lebt. Der ist ja herzlos!“ oder „Der ist arm dran, der hat ja nicht mal genug Geld, um seiner Schwester von der Straße zu helfen.“

Also ist Hilfe geboten. Ich würde helfen und Sie würden das auch. Und natürlich gingen Sie wie ich auch davon aus, dass es für ihre Schwester bald wieder bergauf geht. Dass sie wieder einen Job und eine Wohnung findet. Wenn Sie ihr helfen, und vor allem wenn sie sich anstrengt.

Aber wie wäre es, wenn ihre Schwester das dritte Mal spätabends bei Ihnen vor der Tür steht?

Nachdem sie bereits die letzten Monate bei Ihnen gewohnt hat – und Sie ihr nur mit Mühe eine neue Wohnung und einen Job vermitteln konnten. Wie würden Sie dann entscheiden? Vielleicht bekämen Sie das Gefühl, dass ihre Schwester Sie ausnutzt. Jedenfalls dürfte Ihnen die Entscheidung deutlich schwerer fallen als beim ersten Mal.

James Buchanan hat diese Situation das „Dilemma des Samariters“ getauft: Die Frage, ob man jemandem bei einer Aufgabe helfen soll, wenn man ihm schon häufig dabei geholfen hat – und nicht weiß, ob er sich selbst überhaupt anstrengt. Denn vielleicht hat sich der Gegenpart schon an die Unterstützung gewöhnt, und verlässt sich nun auf die Barmherzigkeit des Samariters.

Anhand eines spieltheoretischen Beispiels zeigt Buchanan, dass es für alle Beteiligten den größten Nutzen bringt, wenn der Samariter hilft. Auch für den Samariter ist das am besten – selbst dann wenn der Gegenpart nicht zur Lösung der Aufgabe beiträgt. Der Gegenpart heißt Griechenland. Und die Aufgabe, die Konsolidierung des Euro, ist viel schneller gelöst, wenn die Griechen tatkräftig mithelfen.

Tricky ist die Situation, weil die griechische Regierung weiß, dass es auch für die Geldgeber am sichersten ist Griechenland weiter zu unterstützen. Hinzu kommt, dass die sogenannten Institutionen als erstes entscheiden müssen (ob sie helfen). Erst im Anschluss muss die griechische Regierung beweisen, mit wieviel Engagement sie ihre Bringschuld begleichen will.

Deswegen müssen die Geldgeber jetzt strategisch vorgehen. Sie müssen möglichst glaubwürdig vermitteln, dass sie bereit sind Griechenland die Unterstützung zu entziehen.

Mit dieser Drohgebärde wollen sie erreichen, dass die griechische Regierung möglichst umfangreiche Reformen zusichert. Das geht nur solange, wie noch kein neues Geld versprochen ist. Deswegen das derzeitige Taktieren und Verzögern. Die Geldgeber wollen maximale Zugeständnisse.

Aber am Ende haben die Geldgeber viel mehr zu verlieren wenn sie nicht helfen, egal wie Griechenland sich verhält. Das ist das Dilemma über das Buchanan schon in den Siebzigern schrieb.

Und so wird man die Schwester wohl ein weiteres Mal auf dem Sofa übernachten lassen. Vor diesem Hintergrund überrascht es auch nicht, dass Angela Merkel in den letzten Tagen zunehmend das Bild der Euro-Familie beschwört.

Buchanan, James Macgill: The Samaritan’s Dilemma, in: Altruism, Morality and Economic Theory, hrsg. v. Edmund S. Phelps, Russell Sage Foundation, New York, 1975, S. 71-85.